Wie stark sind Wildbienen wirklich gefährdet? Und wie kann jeder einzelne die nützlichen Insekten bei sich fördern? Der Wildbienen-Experte Dr. Claudio Sedivy, Mitgründer von Wildbiene + Partner, gibt Antworten und Tipps, die Lust auf mehr Natur machen.
Claudio, alle reden vom Insektensterben. Gibt es in der Schweiz wirklich nur noch so wenige Insekten, speziell Wildbienen?
Tatsächlich gibt es zu dieser Frage kaum wissenschaftliche Untersuchungen. Die vorliegenden Studien zeichnen jedoch ein sehr düsteres Bild. Warum? Es sind nicht bloss viele einst häufige Arten selten geworden. Fast alle Arten haben in ihrer Anzahl stark abgenommen. Es gibt Hinweise dafür, dass die gesamte Insektenmasse in der Schweiz seit den 70er Jahren um über 70 Prozent abgenommen hat. Von den gut 700 mitteleuropäischen Wildbienenarten ist fast die Hälfte auf der Roten Liste der bedrohten Arten.
Welche Rolle spielen die Wildbienen im Ökosystem? Warum sind sie wichtig?
Als vielfältige und äusserst effiziente Bestäuber übernehmen Wildbienen eine Schlüsselrolle für unser Ökosystem. Sie sorgen dafür, dass die unzähligen heimischen Wildpflanzen bestäubt werden, die dann Früchte und Samen produzieren, um sich fortzupflanzen. Ohne Wildbienen würden schon bald viele Wildpflanzen aussterben, was zu einem enormen Verlust und einer starken Verarmung der Biodiversität führen würde.
Welcher Bedrohung sind die Wildbienen ausgesetzt?
Wildbienen sind auf vielfältige und naturnahe Lebensräume angewiesen. Ein breites Angebot einheimischer Wildblumen bildet die Nahrungsgrundlage der Wildbienen. Viele, teils auch seltene Arten fühlen sich unter gewissen Umständen auch im Siedlungsraum wohl.
Diese Lebensräume sind jedoch stark unter Druck. Im Landwirtschaftsraum sind es zum einen Pestizide, die die Wildbienen bedrohen. Hochgiftige Insektenvertilger wie die Neonikotinoide können Wildbienen bereits in kleinsten Dosen den Garaus machen. Genauso schädlich können aber auch Herbizide sein. Diese vernichten sämtliche «Unkräuter», die für lokale Wildbienen-Populationen als Nahrungsgrundlage dienen sollten. Ein oft verkanntes Problem sind aber auch die immer intensiver gedüngten und immer häufiger geschnittenen Wiesen. Diese werden mehr und mehr von wenigen Grasarten dominiert. Denn diese Gräser profitieren am meisten vom übermässigen Nährstoffangebot und verdrängen Blütenpflanzen wie Löwenzahn, Wiesenkerbel, Hahnenfuss und Margerite. Das Resultat sind grüne, eintönige Wüsten, die für Wildbienen und viele andere Insekten nutzlos sind.
Sind Wildbienen auch in Städten gefährdet?
Ja, auch im Siedlungsraum, wohin viele Wildbienenarten ausweichen konnten, kommen sie unter Druck. Gartenbesitzer spritzen oft ebenfalls diverse Gifte, hacken und fräsen «Unkräuter» weg und pflanzen exotische Pflanzen wie Hortensien, Forsythien und Geranien. Für Wildbienen sind deren Blüten aber wertlos. Wichtige Kleinstrukturen wie Totholz, offene Bodenstellen und dürre Pflanzenstängel werden als hässlich und unordentlich empfunden und rigoros bekämpft. Kurz: Gifte, überdüngte Wiesen, leergeräumte Landschaften und unser Trieb, die Natur um jeden Preis «in Ordnung» zu halten, sind die grössten Bedrohungen für unsere Wildbienen.
Wie sähe eine Welt ohne Wildbienen aus?
Das ist schwer zu sagen. Es gäbe auf jeden Fall wegen der fehlenden Bestäubung eine völlig verarmte Pflanzenvielfalt. Diese würde sich wiederum katastrophal auf die Vielfalt der Tiere auswirken, die für das ökologische Gleichgewicht der Natur sorgen. Es könnte ein Massenaussterben folgen mit unvorhersehbaren Folgen für Mensch und Natur.
Eine direkte Folge für uns Menschen wäre ein massiver Einbruch der landwirtschaftlichen Leistung. 85 Prozent der vom Menschen gepflanzten Nutzpflanzen werden von Bienen bestäubt. Honigbienen machen hier bloss einen kleinen Teil aus. Ein Verschwinden der Wildbienen hätte also zunächst einmal eine massive Ausdünnung unseres Speiseplans zur Folge.
Wie kann man Wildbienen gezielt fördern?
Hier gibt es viele Möglichkeiten. Die wichtigsten Hilfen sind diese:
- Einheimische Wildblumen fördern: Ein vielfältiges und zahlreiches Vorkommen von einheimischen Wildblumen bildet die Ernährungsgrundlage für einheimische Wildbienen. Magere und extensiv genutzte Wiesen und Weiden, lichte und sonnige Waldränder, Brachen, aber auch naturnahe Gärten bieten ein vielfältiges Blütenangebot und sollten gefördert und geschützt werden.
- Nistplätze fördern: Wildbienen nutzen je nach Art unterschiedliche Nistgrundlagen, um sich fortzupflanzen. Offene, karge und wenig genutzte Böden sind besonders wichtig für die vielen seltenen bodennistenden Arten. Morsches Holz und trockene Pflanzenstängel sind ebenfalls äusserst wertvolle Nistressourcen. Auch mit Wildbienen-Häuschen kann man über zwanzig Arten fördern und dort wunderbar beobachten.
- Auf sämtliche Gifte verzichten: Ob Insektizide oder Herbizide – chemische Pflanzenschutzmittel sollten möglichst vermieden werden. Es gibt heute für alle Anwendungsbereiche dieser chemischen Gifte biologische und umweltschonende Alternativen.
- Naturnahe Gebiete schützen: Der Schutz und Erhalt naturnaher Gebiete, die von vielen Wildbienenarten besiedelt werden, ist eine besonders wichtige und erfolgversprechende Massnahme.
Wie wirksam ist es, ein Insektenhotel im Garten oder auf dem Balkon aufzustellen?
Viele äusserst spannende und schöne Wildbienenarten lassen sich relativ leicht auf dem eigenen Balkon in einem Wildbienen-Häuschen vermehren. Das Schöne daran: Die Wildbienen lassen sich so wunderbar beobachten. Da Wildbienen nicht stechen und sich nicht fürs Essen interessieren, können Menschen und Wildbienen sehr gut in direkter Nachbarschaft leben. Für einige Arten bieten Wildbienen-Häuschen einen hervorragenden Ersatz für rar gewordene natürliche Niststrukturen, zum Beispiel tote Bäume.
Hilft die Förderung der Wildbienen auch anderen Insekten?
Auf jeden Fall. Wildbienen sind hervorragende Zeigerorganismen. Das heisst: Wo viele Wildbienenarten vorkommen, gibt es immer eine grosse Pflanzen- und Tiervielfalt. Von Wildbienen-Förderung profitieren also automatisch auch viele Pflanzen, Insekten und andere Tiere.
Zur Person:
Tiere und Pflanzen haben ihn schon immer fasziniert. Als Kind fängt Claudio Sedivy, Jahrgang 1981, mitten in seiner Heimatstadt Zürich gerne Molche, Frösche und Libellenlarven aus Weihern, um sie ganz genau zu studieren. Am allermeisten beeindruckt den Naturfreund aber der Artenreichtum der Pflanzenwelt. Sedivy studiert Biologie an der ETH Zürich und schliesst dort 2012 seine Promotion über Wildbienen ab.
Der Botaniker will ganz genau wissen, wie wichtig diese Insekten für Pflanzen sind. Bei seinen Forschungen stösst Sedivy auf die enorme Bestäubungsleistung von Mauerbienen im Obstbau und gründet nach seiner Promotion die Firma Wildbiene und Partner in Zürich. Das Konzept: Die Firma vermehrt Mauerbienen, mit denen Obstbauern durch optimale Bestäubung ihre Ernte verbessern. In Deutschland verfolgt die Tochterfirma Pollinature GmbH dieses bewährte Konzept.
Doch Claudio Sedivy geht es um mehr als den landwirtschaftlichen Nutzen. Deshalb können Privatleute BeeHomes kaufen, Wildbienen-Häuschen mit Mauerbienen. Sedivy: «Die Menschen sollen durch eigenes Erleben herausfinden, wie wichtig gewisse Insekten für uns Menschen sind. Das BeeHome bringt dieses Naturerlebnis auch in die Städte.» Der Einsatz für Wildbienen und Pflanzenvielfalt hört mit dem Einsatz für seine Firma nicht auf. Sedivy geht an freien Tagen mit dem Kescher in die Berge, um den aktuellen Wildbienen-Bestand zu kartieren, hält Vorträge, legt Wildbienen-Paradiese an, berät andere Unternehmen. Sein Ziel: «Biodiversität soll den gleichen Stellenwert haben wie die Nachhaltigkeitsthemen Energie, Bauen oder Wasser.»